Vielen ist ja bekannt, dass das Senken des Reifendruckes in einer Reihe von Situationen hilfreich für's Weiterkommen ist. Ich selbst praktiziere das bei unseren Off-Road-Trips schon seit über 15 Jahren und habe damit sehr gute Erfahrungen gemacht. Jetzt interessierte mich mal, wie sich denn eigentlich die Reifenaufstandsfläche genau bei sinkendem Reifendruck verändert und welche Auswirkungen dies zudem auf die Bodenfreiheit hat. Da ich dazu keine konkreten Angaben (Messungen) gefunden habe, dachte ich mir, dann mache ich das halt selbst. Und wenn ich schon dabei bin, kann ich auch einen kleinen "Air-Down"-Guide für die Nachwelt schreiben. Here we go:
Reifendruck senken, wieso? (die PROs)
Ein PKW-Reifen berührt nur mit einer recht kleinen Fläche den Boden. Dadurch, dass der Reifen aus Gummi und luftgefüllt ist, ist er nicht ganz rund, sondern formt sich etwas der Straße an. Wie stark, hängt eben vom Druck ab - bei "Normaldruck" hat die Berührungsfläche etwa die Größe eines A5-Blattes.
Nur mit dieser Fläche kann der Reifen Kraft auf den Untergrund übertragen. Kommt man in eine Situation, in der diese Kraftübertragung nicht mehr ausreicht, z.B. im Schnee oder Tiefsand, kann man die Reifenaufstandsfläche und somit die übertragbare Kraft durch Senken des Reifendruckes deutlich erhöhen. Nach meiner Erfahrung wird der Effekt von den meisten Leuten erheblich unterschätzt und ist im weichen Sand etwa so wirksam, wie ein Allrad (2WD mit 0,8 bar vs. 4WD mit 2,8 bar). So mancher PKW, der sich am Strand festgefahren hat, könnte sich also durchaus selbst bergen, wenn er nur konsequent und früh genug die Luft abliesse. Die Sache hat allerdings auch ihre Tücken, aber dazu später mehr.
Ein weiterer positiver Nebeneffekt, der bei Schnee, leicht feuchtem Sand oder dickem Schlamm ebenfalls eintritt: Durch den niedrigen Druck walkt der Reifen deutlich stärker, wird also am Übergangspunkt zum Boden stark hin- und her "gebogen". Das führt zu einer Selbstreinigung - Schnee oder Schlamm, der eigentlich das Profil zusetzen und damit noch unbrauchbarer machen würde, fällt aus dem Profil heraus, bei der nächsten Radumdrehung greift der Reifen wieder besser.
Bei steinigem/felsigem Untergrund gibt es zwei Effekte: Zum einen formt sich auch hier der Reifen besser um Steinkanten/Stufen herum und man kommt besser vorwärts. Zum anderen ist der Reifen bei niedrigerem Druck weniger empfindlich gegen Beschädigungen: Während die spitze Steinkante die gesamte Energie auf z.B. einem Quadratzentimeter in den prallen Reifen sticht, kann dieser bei 0,8bar quasi ausweichen, sich herumformen und die Energie wird auf einigen Quadratzentimtern verteilt. Stell Dir einfach vor, einen sehr prall aufgeblasenen Luftballon auf einen spitzen Kieselstein zu drücken oder aber einen ziemlich schlappen Luftballon - welcher platzt zuerst?
Aber wieviel größer genau wird denn eigentlich die Reifenaufstandsfläche bei niedrigerem Druck? Dazu habe ich anhand eines Nissan-Pathfinder mit General-Grabber in der Größe 265/70/R17 eine Messreihe gemacht. (Vorgehensweise: Vorderrad mit 0,8 bar auf Siebfilmplatte geparkt, von allen vier Seiten ein A3-Blatt unter den Reifen geschoben, soweit man kommt / bis es klemmt. Abstände in Längs- und Querrichtung sowie Höhe des Fahrzeugs messen. Sukzessive den Reifendruck erhöhen, Blätter ranschieben, neu messen, etc.).
In der Grafik ist zu sehen, das konsequentes Senken des Druckes die übertragbare Kraft etwa verdoppelt* und - für mich überraschend - das der Zusammenhang annähernd linear ist. Also auch eine relativ niedrige Senkung des Luftdruckes bringt schon spürbare Verbesserung. Im Detail ist für den Flächenzuwachs übrigens hauptsächlich eine Verlängerung der Reifenaufstandsfläche (hier von ca. 17 auf 27cm) und nur relativ wenig eine Verbreiterung (ca. 19,5 auf 21,5cm) verantwortlich.
(*Zu berücksichtigen ist, das meine Methode wirklich nur die direkte Aufstandsfläche auf einer glatten Fläche misst. Wenn man aber durch z.B. Weichsand fährt und einsinkt, übertragen auch die unteren cm des Reifens, die als Wulst schräg nach außen geneigt sind, noch Kraft, so daß in der Realität der Kraftgewinn bei niedrigerem Druck höher sein dürfte.)
Reifendruck senken die CONTRAs:
Wie so oft hat die Sache auch Ihre Nachteile und über diese sollte man sich im Klaren sein. Fangen wir zunächst mit einem Thema an, welches man ebenfalls der obigen Grafik entnehmen kann: Mit dem Reifendruck senkt sich auch das Fahrzeug ab. Bei der obigen Fahrzeugkonstellation wird mittig unter dem Fahrzeug (beim VTG) die Bodenfreiheit knapp 2 cm kleiner, wenn man den Druck auf 0,8 bar senkt. Es hängt also von der Situation ab: Im Schnee oder präventiv auf Weichsand vermutlich egal. Wenn man allerdings nach dem Festfahren am Strand in bester Touristenmanier erst solange das Gaspedal durchgedrückt hat, bis der Unterboden schon flächig aufliegt, wird ein gesenkter Reifendruck nichts mehr nutzen.
Wenn man andererseits in hartem Gelände mit großen Stufen, Steinbrocken und Kuppen unterwegs ist, können diese 2 cm genau die entscheidenden sein, ob man mit dem Rahmen aufliegt oder noch über das Hindernis kommt.
Aber es gibt noch ernsthaftere Risiken: Wie oben schon beschrieben walkt der Reifen bei immer niedrigerem Reifendruck immer stärker. Diese Verformungsarbeit führt zu Erhitzung am meistbelasteten Übergang zur Reifenflanke und kann im schlimmsten Fall zu einem Reifenplatzer führen! Mit stark gesenktem Reifendruck sollte also nur langsam* gefahren werden, keinesfalls längere Zeit auf einer Landstraße oder gar Autobahn! Die meisten AT- und wohl alle MT-Reifen haben auch deswegen einen deutlich verstärkten Aufbau der Seitenflanke und vertragen diese Belastung daher besser als ein Strassenreifen. (*Weiter unten dazu ein paar Anhaltspunkte/Erfahrungswerte.)
Ein weiteres nicht zu unterschätzendes Risiko: In einer normalen PKW-Felge wird der Reifen in der Felge von einem sog. Hump in der Felgenschulter gehalten. Bei ausreichendem Reifendruck hält das sehr gut. Senkt man den Reifendruck aber sehr stark ab, kann es passieren, dass der Reifen bei Querbelastung aus der Schulter nach innen in die Felge gedrückt wird und schlagartig kompletter Luftverlust eintritt! Dies geschieht z.B. bei einem Bremsmanöver in einer zu schnellen Linkskurve mit dem rechten Vorderrad: Das Rad steht halb quer zum Moment des Fahrzeugs und der gesamte Bremsdruck schiebt das Fahrzeug über die rechte vordere Ecke - entsprechend wird der Reifen unten vom Bodenkontakt nach innen gedrückt und kann abrutschen. Wenn man neben dem Kompressor nicht gerade eine Dose Bremsenreiniger und die dazu gehörige Erfahrung (oder Abenteuerlust) dabei hat, senkt das möglicherweise temporär etwas die Stimmung...
Noch eine Anmerkung: Es gibt u.a. aus diesem Grund spezielle mehrteilige sog. Beadlock-Felgen bei denen der Reifen mittels Klemmringen verschraubt und so sicher an seinem Platz gehalten wird. Diese Felgen werden z.B. beim Rockclimbing teilweise mit nur 0,3-0,5 bar Reifendruck gefahren.
Reifendruck senken, Wie?
Wenn man von ganz komfortablen Systemen absieht, bei denen man den Reifendruck während der Fahrt aus dem Cockpit regulieren kann, stellt sich die Frage, wie man ihn absenkt. Zu diesem Zweck gibt es automatische Ventile, die man im Bedarfsfall auf die Reifenventile schraubt und die dann bis zum vorher eingestellten Zieldruck die Luft ablassen. Obwohl man hier alle vier Reifen gleichzeitig versorgen kann, dauert dies relativ lange. Ich selbst - weil meist mit Familie unterwegs - verteile einfach je eine Person mit einem Schlüssel o.ä. an jeden Reifen zum Luftablassen und weiss aus Erfahrung, dass ca. 60 Sek. bei uns ca. 1 bar ausmachen. Danach gehe ich kurz mit dem Handmanometer rundherum kontrollieren, Ventilkappen wieder drauf, fertig.
Weil das auch gerne mal gefragt wird: Bis auf wenige Ausnahmefälle macht das Absenken des Druckes nur für angetriebene Achsen Sinn! Ich habe schon gesehen, wie jemand die Luft an seinem Wohnanhänger abließ, als er sich am Strand festgefahren hatte weil er "irgendwo etwas davon gehört hatte, das solle helfen". Nein, hier würde ja nur der Rollwiderstand des Wohnwagenreifens noch weiter erhöht, also kontraproduktiv!
Wenn man den Reifendruck abläßt, sollte man sich vorher schon Gedanken darüber machen, wie man ihn hinterher wieder anhebt. Die bei einigen Fahrzeugen mitgelieferten Mini-Kompressoren aus dem Boardwerkzeug sind dabei bestenfalls ein Notbehelf für äußerst geduldige Zeitgenossen. Um obige 265/70/R17 von 1,2 wieder auf 2,7 bar zu pumpen sind da schnell 10-15min (für EINEN Reifen) einzukalkulieren. Nach 1-2 Reifen ist allerdings der Kompressor so heiß gelaufen, dass er erstmal abkühlen muss, bevor man sich dem nächsten Rad zuwendet. Wer diesen Leitfaden also nicht nur für den Notfall gelesen hat, sondern die Technik beim Offroaden regelmäßig einsetzen möchte, sollte sich dringend einen geeigneten, deutlich leistungsfähigeren 12V-Kompressor zulegen.
Zu guter Letzt fragt man sich vielleicht, was denn nun praktisch sinnvolle Reifendrücke für verschiedene Szenarien sind und wie lange oder wie schnell man damit dann fahren kann. Wie oben schon geschrieben ist das schwer allgemein zu beantworten und abhängig vom Reifen und der Situation bzw. Dringlichkeit. Ein MT-Reifen verträgt i.d.R. niedrigere Drücke als ein reiner Straßenreifen. Je niedriger der Druck - um so langsamer sollte man nur noch fahren, - um so kürzer sollte die Nutzungsdauer sein und - um so mehr sollte man Querkräfte in Kurven meiden!
Meine Erfahrungswerte aus vielen tausend Offroad-km:
Bei o.g. Grabber ATs ist der Straßendruck bei mir 2,7 bar. Im ernsthaften Gelände gehe ich meist erstmal auf ca. 1,8 bar. Dann wird aber i.d.R. nicht schneller als 50-60km/h gefahren. Bei ausgedehnten Weichsand-/Dünen-Einsätzen gehe ich ausnahmsweise auch mal auf 1,2 bar herunter, fahre dann aber nicht schneller als ca. 20km/h. Das geht mit den Reifen dann auch stundenlang. Dennoch sollte man bei erster sich bietender Gelegenheit bzw. längerem Wechsel zu Straße den Reifendruck wieder erhöhen!
Im Winter fahre ich Conti Wintercontact (nein, auf keinen Fall ATs) normalerweise mit 2,5 bar und senke bei starkem Schnee ggf. auf 1,8-2 bar, aufgrund des Reifenaufbaus aber nicht niedriger. In einem Notfall bei feststeckendem PKW würde ich ggf. für einige Meter auch auf 1 bar runter gehen, dann aber direkt wieder aufpumpen.
Dieser Leitfaden erhebt weder einen Anspruch auf Vollständigkeit noch auf "die einzig richtigen" Antworten. Wenn Euch die kleine Einführung ins Thema gefallen hat oder Lust auf's selbst erfahren (!) macht, freue ich mich über eine Rückmeldung. Wenn ich Aspekte vergessen habe - Einfach fragen!